Beeindruckt von dieser Aussage des persischen Dichters Saadi, beschloss ich vor etwa zwanzig Jahren, nach ersten künstlerischen Versuchen im Malen – auch im Komponieren und Dichten –, mich vorerst gründlich theoretisch auszubilden. Das Nachdenken über Kunst begleitet seither meine praktische Arbeit. Viel habe ich ausserdem vom schweren, mit Leiden verbundenen Emigrantenleben gelernt.
In der Moderne hat sich die Kunst von Kultus, Inhalt, Form, Tradition und jeglicher Funktion «befreit«. Sie ist autonom geworden, «reine Kunst». Denselben Prozess hat auch der Mensch durchgemacht. Auf diesem Weg ist die Kunst zu ihrer Kern-Substanz gelangt. Dabei stellt sich die Frage: Was ist dieser Kern? Ist es Schönheit, Liebe, Zufall? Für mich ist dieser Kern Gott-Geist im Sinne des Visionärs Joachim von Fiore: Schöpfer-Geist, Creator Spiritus. Dieser Schöpfer-Geist ist heute nicht mehr in den Kirchen, sondern unmittelbar in den Menschen durch ihr Schaffen und ihr Lieben wirksam. In einem Kunstwerk zeigt er sich als Symbol-Form. Das Symbol weckt Erinnerungen an etwas, das vergangen ist und gibt diesem neuen Leben. In ihm ist Vergangenheit gegenwärtig. Es ist eine Aufgabe der Kunst, Tradition nicht bloss zu konservieren, sondern zu übersetzen, stets neu zu sagen. Wer gelernt hat, mit der Tradition umzugehen, kann sich davon befreien, damit spielen. Mich inspieren die Traditionen der altchristlichen, besonders der altgeorgischen Welt. Die Symbole dieser Kulturtraditionen sind «Urbilder», die ihrerseits «Übersetzungen», Wiederbelebungen noch älterer Kunstgesetzmässigkeiten sind.
Im generativen Kern, im symbolhaften Wesen des Kunstwerks steckt das Geheimnisder Bewegung, des unbestimmten, unberechenbaren, aus Freiheit entsprungenen dynamischen Impulses, der von ihm ausgeht. Schöpfung beruht auf der lebensspendenen Dynamik des Sich-Wiederholens, des Sich-immer-neu Erzeugens: vom Urbild zum persönlichen Inbild, vom Ursprung zum konkreten Kunstwerk. Bei der Entstehung eines Kunstwerks spielen verschiedene Faktoren wie Inspiration, Material, Technik, Intuition, Wissen, Ideen, Zeit frei zusammen. Es ist immer ein Experiment. Auf dem Weg zum Kunstwerk können viele Wunder passieren. Diesen Weg schätze ich viel höher ein als das fertige Bild. Ich praktiziere die uralte, elementare Maltechnik der Enkaustik oder Ikonenkunst, bei der alles langsam und mit eigenen Händen hergestellt wird: vom Holzstuckieren bis zum Firniskochen. Dies erlaubt mir, zimelich lange auf diesem Weg zu verweilen; spielend und experimentierend. Es ist höchst befriedigend, Farben aus Edelsteinpigmenten und Mineralien wie Lapislazuli, Malachit, Azurit, Jaspis, Pyrit, Chrysokoll, Fuchsit, Rhodochrosit, Auripigment, Zinnober, Onyx u.s.w. selbst von Hand zu mischen, echtes Blattgold, Blattsilber und Kupfer aufzutragen oder mit Steinpulver, Holzstücken, Wachsen, Harzen, Leimen, Eiern, Wein und Knoblauch zu arbeiten.
Seinem Wesen nach steht ein Kunstwerk durch diese Dynamik des Sich-immer-wieder Selbstproduzierens nahe an der Grundbestimmung des Lebens selbst. Es ist ein «organisches» Wesen, eine organische Einheit. Je einheitlicher und lebendiger es ist, desto stärker wirk es auf den Betrachter. Wenn es überhaupt ein ewiges Gesetz der Schönheit gibt, dann ist es das «Auf-dem-Weg-Sein» zur Vollkommenheit. Allein das noch unvollendete Werk eignet sich zur Vervollkommung in der Phantasie des Rezipienten. Das unvollendete Werk fordert vom Betrachter ein kommunikatives Handeln.
Die Anerkennung des Bildes als Symbol (Ikone) gibt eine Antwort auf die Frage nach dem gemeinsamen semiotischen Kern, welcher den verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen zugrundeliegt. Ein Symbol ist immer mehr als das Dargestellte. Etwas, das sich nicht genau erklären lässt, das aber einen Freiraum schafft, welcher durch eine geistige Leistung des Rezipienten individuell ausgefüllt werden kann. Je bildhafter, breiter und reicher in einem Kunstwerk dieser semiotische Kern spürbar ist, desto mehr überschreitet es die Grenzen der eigenen Darstellungsformen und überfliesst in andere. Es gilt dann, den Rhythmus des Bildes «herauszuhören», ebenso, wie beim Lesen eines Gedichts der Rhythmus heraushörbar ist, oder wie beim Hören eines Musikstückes sich beim Rezipienten ein evokatisches Bild einstellt. Das ist ein Akt der Synthese. Musik und Dichtkunst begleiten meine Malerei. Die Synthese. Musik und Dichtkunst begleiten meine Malerei. Die Synthese mehrerer Künste war in grossen alten Kulturepochen selbstverständlich; alles war sowieso auf einem religiösen Hintergrund vereint. Heute ist dies Synthese individuell zu leisten.
Das Hin und Her, der Dialog, das Kommunizieren zwischen Werk und Rezipient ist ein bewegter, spielerischer, lebendiger Akt. So, wie der Dialog zwischen Urbild und Neubildendem. Wie allem Lebendigen sind diesem Akt des Kommunzierens bestimmte Rhythmen eigen. Jedes Kunstwerk – nicht nur Musikstücke – verlangen ihr eigenes Tempo, nach welchem die Formen, eine nach der anderen, «erklingen» oder «ausgesprochen» werden. Für die Wahrnehmung von Musik und von Bildern braucht es eine gewisse Musse. Meine Bilder bestehen oft aus mehreren Tafeln oder sind innerhalb der Bildflächen unterteilt, was einen Rhythmus entstehen lässt. Oft stelle ich einen Zug von Menschen durch die Zeit dar, womit der Betrachter herausgefordert wird im selben Temp «mitzugehen».
Auf jedem Weg vergeht die Zeit, in jedem Zug läuft man Schritt für Schritt. Nur dann, wenn etwas Festliches geschieht, steht die Zeit still. Da beginnt die Zeitlosigkeit und diese bringt eine Ahnung des Jenseits. Dessen, was über das Leben hinaus geht. Ein Fest bedeutet, dass Menschen zusammenkommen, wo etwas Erhabenes geschieht. Viele kultische Darstellungen aus alten Zeiten und Religionen haben feierliche Prozessionen von Menschen zum Gegenstand. Sie zeigen nicht das Ziel selbst, sondern den Weg dorthin. Der Betrachter ist aufgerufen, mitzuschreiten und an jener Feier teilzunehmen. Eine ursprüngliche Aufgabe des Kunstwerks ist es, das Vergängliche, das Laufende festzuhalten oder zu verewigen. Auch meine Bilder finden sich nicht die Darstellungen des Ziels, sondern des Weges. Eine Weges, der zu einem Fest führt und der selber Fest ist.